Textatelier
BLOG vom: 28.02.2015

Das Velo aus dem Winterschlaf geholt und ausgefahren

Autorin: Rita Lorenzetti, Zürich-Altstetten
 
In den Wintermonaten tranken wir Milch aus der Packung. Jetzt aber pedale ich wieder zum Bauernhof und hole dort Frischmilch. Vor wenigen Tagen, als letzte Schneeflecken und Eiskristalle an den Strassenrändern verschwunden waren, eröffnete ich unsere persönliche, neue Milchsaison.
 
Es war ein besonders heiterer Tag. Die Sonne vermochte den zähen Hochnebel endlich aufzulösen und ihr Licht wieder in alle Winkel auszustrahlen. Auf der Strasse, im Bus und Tram war dieses Licht ein dankbares Gesprächsthema. So muss Freude an der wieder sichtbaren Sonne im hohen Norden empfunden werden, wenn die Polarnacht zu Ende ist und erste Sonnenstrahlen auftauchen. Diesen Augenblick nennen sie die Wiederkehr des Lichts.
 
Auf den Wiesen in meinem Umfeld hatte sich über Nacht Raureif gebildet. Er begann sich aufzulösen, als ich mit dem Velo zum Bauernhof nach Schlierenberg fuhr. Einige der gerade entstandenen Wassertröpfchen blitzten rot auf, als ob sie Kristalle wären.
 
Die Sonne wärmte meinen Rücken. Mein Schatten fuhr vor mir her, begleitete mich auch, als die Strasse der ursprünglichen Ost-West-Richtung nicht mehr folgte. Jetzt sah ich mein Abbild im angrenzenden Rapsfeld mitfahren. Ein lustiges Spektakel, nur für mich.
 
Auf der Rückfahrt wurde ich vom Licht geblendet. Und mein Schatten fuhr mir hinten nach. Ich konnte ihn nicht sehen, wusste aber, dass er mich immer noch begleite. Und es blitzten in mir die Worte Ende Fin auf, wie wir sie von Charlie Chaplin-Filmen kennen. Bald war ich zu Hause und meine heitere Ausfahrt auch zu Ende. Ich fühlte mich beschwingt.
 
 
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